Komposition aus Bergen, Fluss und Wiesen
Schon beim ersten Blick auf die Werra fällt es schwer zu glauben, dass wir uns noch mitten in Deutschland befinden. Wir stehen auf der steinernen Stadtbrücke von Themar, kaum eine halbe Stunde von der nächsten Autobahn entfernt, und starren immer abwechselnd auf die ehrwürdigen Fachwerkgiebel und Schieferdächer und dann wieder auf den kleinen Fluss unter uns, der flink an der alten Stadtmauer vorbeiströmt.Der Kontrast könnte kaum größer sein. Die Stadt wirkt in der Mittagssonne still und ausgestorben wie ein Freilicht-Museum, das die Zeiten hier seit dem Mittelalter dokumentieren will – verwitterter Stein und knorriges Holz, Stadtwappen, DDR-Spitze im Schaufenster und einsam geparkter Skoda Fabia am Rand der Friedensstraße. Daneben sprudelt seit Eiszeiten so klar und lebendig, wie ein junger Fluss es nur sein kann, die Werra unter uns hindurch und eilt aus der Stadt hinaus ins wuchtige Grün.
Angekommen
Wir sind angekommen, wo wir starten wollten. Zu einer charaktervollen Tour auf einem mitteldeutschen Fluss, den Google überraschenderweise als natürlich und ursprünglich angepriesen hatte, weil die Werra eben auch einst innerdeutscher Grenzfluss mit industrieller Vergangenheit war. Wobei von Industrie hier und heute nichts zu spüren ist. Aber Grenze, das passt. Und doch sind wir von der abrupten Abgelegenheit ziemlich überrascht. Wir hatten kaum die Autobahnabfahrt hinter uns gelassen, da taten sich satt-grüne Täler mit alten Ortschaften vor uns auf. Diese Täler, die aussahen, als käme da bald nichts mehr, haben uns nach Themar geleitet, wo wir jetzt staunend auf der Brücke stehen.
Mittags im Mittelalter
Themar war für uns bis zu diesem Augenblick der Ort, den wir ins Navi eingeben mussten, damit wir den nach unseren Recherchen bestgeeignetsten Ort für einen Tourenstart erreichen. Wir wollten die Werra möglichst weit auf dem Oberlauf beginnen. Kaum waren wir hier angekommen, da wurde dieser Ort für uns etwas anderes. Ein Gefühl von Abenteuerlust flammt in uns auf. Wir machen uns daran, hier im Mittelalter etwas zum Mittagessen aufzutreiben. Und einkaufen müssen wir auch noch. Wir sind nicht sicher, ob uns dies hier gelingen würde.
Ein Mensch, drei Autos
Als wir dann zwei Stunden später die Boote oberhalb der Stadtbrücke zum Wassern vorbereiten, dauert das mit allem Drum und Dran ungefähr eine Stunde. Die Einkaufstüten waren gut gefüllt und haben sich nun in den Luken verteilt. In dieser Zeit sind wir einem Menschen und drei Autos begegnet, die die Brücke passierten. Irgendwie sind wir schon hier – noch mitten in Themar -, ohne eine Sekunde im Kajak gesessen zu haben, mitten in der Natur. Das natürlich gegliederte Flussbett und dicht daneben der jenseits des Flusses aufsteigende Bergrücken mit seiner opulent herb-wilden Ausstrahlung ziehen uns in seinen Bann. Es fühlt sich trotz Supermarkt-Einkauf immer noch alles wie Mittelalter an. Und wir sind die Vagabunden, die Gesetzeslosen ohne Verpflichtung, die jetzt ohne viel Aufsehen zu erzeugen, in Kürze die Stadt über diesen idyllischen Flusslauf verlassen würden. Das aufregende Gefühl in uns steigert das nur.
Wie unbewohnt
Dann ist es soweit. Ein leichter Stoß vom Ufer genügt und sofort nimmt uns der junge Lauf in seine Mitte. Obwohl der Fluss mitten durch das Herz der Stadt führt, treffen wir niemanden. Keinen, der einen Blick auf den Fluss wirft. Absolut keinen. Immer noch alles wie unbewohnt.
Akzente aus dem Paddel-Bilderbuch
Der Weg aus der Stadt führt schnell hinein in eine landschaftliche Komposition, die den Eindruck totaler Abgeschiedenheit nur verstärkt. Der nahe Thüringer Wald und die Rhön setzen hier im Werra-Tal ihre deutlichen Akzente. Entsprechend fällt unser erster Lagerplatz an der Werra aus. Wir sind kaum zehn Kilometer weit gekommen. Alles wirkt wie aus dem Paddel-Bilderbuch, ist aber tatsächlich nicht minder schön.
Idylle am Fluss
Wir verbringen den Abend in einer lang geschwungenen Flussbiegung. Beinahe wilde Wiese umgibt uns. Das Gras wurde nur einmal im Frühsommer gemäht. Die zweite Maat steht noch aus. Ideale Zelt-Bedingungen, wenn man keinen Sportrasen braucht. Nur am Rand des Tals hört man ab und zu ein Auto. Manchmal kann man auch ein Fahrrad auf dem nahen Radweg erahnen. Und jede Stunde schiebt sich einmal für zwanzig, dreißig Sekunden die Regionalbahn durchs Tal, die sich mit einem breiten Scheppern ankündigt, das nach und nach in den umliegenden Wäldern verhallt. Dann herrscht wieder Mittelalter mit Idylle am Fluss.
Fakten für Kanuten
Damit aus diesem Bericht keine Reisemagazin-Reportage wird, jetzt ein paar handfeste Hinweise für Kanuten: Für den Start einer Paddeltour auf der Werra eignet sich das kleine Städtchen Themar, gelegen in Südthüringen, eingebettet in eine imposante Landschaft zwischen Thüringer Wald im Osten und der Rhön im Westen. Unweit des Marktplatzes gibt es einen geeigneten Anfahrtspunkt in unmittelbarer Nähe zur Stadtbrücke. Da der Bahnhof von Themar regelmäßig von Personenzügen angefahren wird, bietet es sich an, hier das Auto für die spätere Rückfahrt abzustellen.
Nichts für Sonntagspaddler
Da die meisten Kanuten ihre Tour erst einige Tagesreisen weiter stromabwärts beginnen, kann man auf diesem Flussabschnitt noch einsam starten, ohne gleich befürchten zu müssen, in einen Bootskorso zu geraten. Die Gegend ist eh noch nicht das typische Terrain für Sonntagspaddler. Die Werra hat Themar noch nicht hinter sich gelassen, da zeigt der junge Fluss bereits, dass es nicht in seinem Sinn ist, dem Wanderer eine ruhige Paddeltour zu bereiten.
Werra-Mantra
Es wird zu einem ständigen Mantra der Werra hier oben: Immer wieder Stromschnellen, ein wilder Fluss, Mäander folgt auf Mäander, und alles ist lückenlos flankiert von Bergen, die mit dramatischen Muschelkalkhängen oder bewaldeten Bergrücken den Flusslauf schmücken. Auf dem gegenüberliegenden Ufer breiten sich die Wiesen bis an die Ausläufer des Thüringer Walds aus. Es ist das klassische Spiel aus Wiesen, Wald und Bergen, welches mittlerweile selten geworden ist hierzulande. Dazwischen ziehen sich immer wieder einmal die Hänge zurück und geben den Raum für ein kleines Dorf frei. Jedes dieser Dörfer ist ein Ideal aus Fachwerk und historischen Ziegeln.
Urbanes Funkeln
Bis Meiningen bleibt die Werra ein kleinräumiger Wildfluss. Ihre wuchtige Natürlichkeit wird in Meiningen etwas überlagert von der Atmosphäre einer kleinen, aber doch belebten Stadt. Meiningen ist schon ganz anders als Themar. Auch hier gibt es zwar die alte Substanz, doch sie gibt sich herrschaftlicher, zumindest vom Wasser aus gesehen. Es funkelt sogar etwas urban. Das liegt vermutlich an den alten Stadtvillen, deren große Balkone wie Tribünen auf die Werra hinunterschauen.
Werra überraschend
So sind wir schnell überzeugt, dass es nun nach dieser richtigen Stadt etwas weniger wild zugehen würde. Man kennt es ja: am Übergang eines Flusses vom Oberlauf zum Mittellauf lässt das Gefälle nach und die Flussabschnitte werden entspannter. Doch nicht so die Werra. Wie auch noch später so oft, bleibt die Topografie dieses Flusses überraschend.
Teil 2 folgt in Kürze hier auf roadreport.de.
Weiterhin gibt es für Gesamtdeutschland das Deutsche Flusswanderbuch mit einem hilfreichen Kartenteil.
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Für alle, die mit dem Fahrrad die Werra entlang reisen möchten: