Das zahme Wildstück
Wer sich diesen Fluss auf der Karte anschaut und hier und da etwas durch die Wikis und Bildersuchen des WWW stöbert, kann leicht den Eindruck bekommen, dass die Obra ein kleiner unscheinbarer Paddelfluss ist, der wenig mit den großen Klassikern in Polen gemeinsam hat. Doch weit gefehlt.
Der Name Obra bezeichnet zwar einen Flusslauf. Das Flusssystem besteht jedoch aus verschiedenen Flussläufen und Kanälen, die zur Obra gehören und eine vielseitige Flusslandschaft ergeben. Zentral ist eine trockengelegte und eingedeichte Senke, das Obra-Bruch. Mit seinen Nebenarmen und Kanälen handelt es sich um ein ganzes Gebiet in der Niederung zwischen Poznan, Szkwierzyna und Zielona Gora, das voller Abenteuer steckt. So gibt es auch zwei Abflüsse, die als sogenannte Bifurkation aus dem Jezioro Chobienickie in zwei Richtungen abfließen. Die faule Obra fließt in die Oder, und ein anderer Flussarm fließt in die Warta bei Szkwierzyna.
Eine Stadt, zwei Seen
Mitten in dieser Landschaft liegt die Stadt Wolsztyn (ehemals Wollstein), gelegen an zwei Seen. Dieser Ort ist eine gute Möglichkeit, eine Kanu-Fahrt auf der Obra zu beginnen, seit Kopanica nicht mehr per Zug angefahren wird. Wolsztyn hat einen Campingplatz oberhalb der Stadt an einem der beiden Seen, wo man gut die erste Übernachtung einplanen kann und einen Parkplatz für das Auto findet. Wenn man darüber hinaus für den Rückweg eine mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbare Stadt sucht, ist man in Wolsztyn genau richtig.
Dampf und Tamtam
Und nicht nur das. Es kann passieren, dass man hier mit Musik und Tamtam empfangen wird. Jedes Jahr finden in Wolsztyn wichtige Musikfestivals im Park statt, deren Atmosphäre bis aufs Wasser strahlt. Neben der idyllischen Lage, eingebettet zwischen den beiden Seen und der weitläufigen Parkanlage gibt es noch eine Besonderheit, mit der viele Paddler hier in Berührung kommen, wenn sie später wieder hierher zurückkommen, um ihr Auto zu holen. Sie fahren wahrscheinlich mit einer der letzten europäischen Dampfeisenbahnen im Regelbetrieb.
Wasser verbindet
Allein aus diesen Gründen lohnt sich der Start für eine Obra-Tour in Wolsztyn, auch wenn die Stadt nicht direkt am Flusslauf der Obra gelegen ist. Dafür besitzen die beiden Seen, an denen Wolsztyn liegt, eine Verbindung zur Obra. Den Wasserwanderer trennen nur zwei Paddelstunden und zwei Wehre von einem der schönsten Obra-Abschnitte.
Start in Wolsztyn
Wir waren im Sommer 2017 auf dieser Route unterwegs. Vom Campingplatz aus durchquerten wir den ersten See. An dessen schmalem Ausgang liegt das erste Wehr noch mitten im Stadtgebiet, welches sogar mit einer Schleuse ausgestattet ist. Jedoch erschloss sich uns nicht, ob und wann diese Schleuse in Benutzung ist. Mit einer kurzen Umtragung über eine Straße war es dann aber auch schnell getan. Kurz darauf gelangten wir zum zweiten See, mit dem wir das Stadtgebiet verließen. Am anderen Ende des Sees suchten wir den Ausgang. Der liegt etwas versteckt zwischen einem Schilfgürtel am westlichen See-Ende. Hier hilft es, auf die roten Markierungen zu achten, die den Austritt anzeigen.
Wasserspaziergang
Hier erwartete uns Wehr Nummer 2 auf dem Weg zur Obra. Dahinter gelangten wir in einen Durchstich, der direkt in einen Hauptlauf der Obra mündet. Dafür müssen wir uns den Weg durch ein enges Fließ bahnen. Zwischen dem Schilf wirkt das Gewässer eng wie ein Graben. Oft stehen die Ufer sehr niedrig und so nah an den Wiesen und Feldern, dass der Abschnitt einem Landschaftsspaziergang gleicht. Dann öffnet sich der Hauptlauf. Durch den plötzlichen Kontrast wirkt die Obra auf uns im ersten Moment so dermaßen riesig, obwohl sie hier kaum zehn Meter breit ist.
Klarwasser
Von nun an folgen teilweise stark verkrautete Passagen. Dafür sind wir auf sehr klarem Wasser unterwegs, so dass man meinen könnte, über eine Flusswiese zu schweben, die sich jenseits der Ufer über die Felder und Weiden fortsetzt. Teilweise reichen einzelne Waldstücke bis nahe an den Flusslauf. Es gibt auf diesem Abschnitt zahlreiche Wehre, die in unserem Falle (Juli 2017) jedoch fast alle offen standen, so dass wir die Bauten mit wenig Aufwand passieren konnten. Die kleinen Unterbrechungen nutzten wir gerne zur Abkühlung und ließen uns an solchen Stellen immer wieder mal ins Wasser fallen.
Trübung
Nach Kopanica – der Ort, der in den meisten Beschreibungen noch als geeigneter Startpunkt für eine Obra-Fahrt genannt wird – folgen mehrere Seen. Das Wasser ist hier trübe. In warmen Sommern wie diesem gibt es viele Algen. Nach einem See braucht es dann immer einige Flusskilometer, bevor man wieder den Flussgrund sehen kann.
Kontraste
Dass die Obra ein sehr abwechslungsreicher Fluss ist, wird spätestens am dritten Paddeltag klar. Es gibt alle Variationen – Wald und Wiesen, Seen und Schilf, klein und groß, dicht bewachsen und frei. Dazu kommen Ausschnitte aus der jüngeren Geschichte. Die Obra ist als ein Teil in die Verteidigungslinie des Oder-Warthe-Bogens eingefügt. Davon finden sich eine Reihe von Zeugnissen entlang des Flusslaufs in Form von Bunkern oder einer gepanzerten Zugbrücke. Am dritten Abend lagerten wir inmitten eines krassen Kontrasts. Hinter uns am Waldrand ein Schützengraben und vor uns am Hang der idyllische Blick auf den Fluss und ein stilles Wehr.
Alles Zahmwasser
Auf der zweiten Hälfte der Tour mausert sich die Obra nach und nach zum ausgewachsenen Wildfluss. Alles bleibt zwar im Zahmwasser-Bereich, aber nach Trzciel und dem Jezioro Wielkie gibt es mehr und mehr Baumhindernisse im Bett. Der Fluss mäandert stärker als zuvor. Unterhalb von Miedzyrzecz bis zum Jezioro Bledzewskie folgt dann ein sehr naturbelassener Abschnitt, wo sich dichte Auwälder mit Altarmen und Wäldern abwechseln.
Moorig und menschenleer
Es folgt die bekannte Komposition aus Steilböschung mit Abbruchkante an der Flussaußenkurve und flachen Feuchtmooren auf der Kurveninnenseite. Altarme und später auch teichähnliche Erweiterungen weichen die Uferbereiche auf. In starken Mäandern schlängelt sich die Obra durch eine menschenleere Landschaft, abgeschirmt durch alte Buchenwälder mit steilen Uferböschungen und moorigen Auwäldern.
Lehrstück
Die Obra wird zum Lehrstück eines Wildflusses. Auf dieser Etappe gibt es komplexe Baumhindernisse mit vielen Verblockungen. Je nach Wasserstand muss man hier teilweise aussteigen. Man kann viel üben und die Dynamik von Baumhindernissen studieren. Die schwache Strömung verzeiht mögliche Fehler und die Baumhindernisse schulen ungemein den Umgang mit Kanus.
Bis zuletzt
Insgesamt erscheint die Obra hier ähnlich wie die Drawa in ihrem Mittellauf, aber mit geringerer Strömung. Baumhindernisse gibt es wirklich bis zuletzt. Das letzte seiner Art folgt noch wenige hundert Meter vor der Mündung in die Warthe. Erst ab hier ist es wirklich mit den Baumhindernissen vorbei. Wer will, kann hier seine Tour beenden (in Szkwierzyna gibt es eine Zugverbindung Richtung Wolsztyn) oder eine schöne Weiterfahrt auf der Warthe genießen.
Fazit
Insgesamt muss man festhalten: die Obra fließt durch ein sehr abwechslungsreiches Gebiet. Der Flusslauf der Obra ist geprägt durch viele Seen. Es gibt flache Abschnitte mit Feldern, Weiden und Mooren, dann aber hin und wieder auch bewaldete Strecken durch hügeliges Terrain. Dort gibt es dann tiefe Einschnitte des Flusstals mit teilweise schroffen Uferwänden.
Klein und wild
Bemerkenswert ist, dass der Flusslauf größtenteils kleinräumig, wild und abwechslungsreich bleibt, während andere Flüsse mit fortschreitender Länge zunehmend breit werden und ihren Charakter stark ändern. Aber die Obra hat zu jeder Zeit eine schöne Flussschleife zu bieten und bleibt bis zuletzt spannend.
Algenwetter
Als wir im Juli 2017 auf der Obra unterwegs waren, war die Wasserqualität sehr gut. Das Wasser war auf den Fließabschnitten sichtbar sauber. Nur auf den Seen im Mittellauf gab es zur Befahrungszeit starke Trübungen durch Grünalgen, die vermutlich dem heißen Wetter bzw. übermäßig warmen Wassertemperaturen geschuldet waren.
So langsam wild
Die Obra hat eine nur mäßige Strömung. So kann man auf ihr entspannt reisen. Im Verhältnis zu ihrer Länge sind auf der Obra nur wenige Umtragungen notwendig. Das wissen auch die Polen zu schätzen. Dementsprechend ist die Obra dort als Paddelfluss sehr beliebt. Entlang der Flussstrecke gibt es zahlreiche Ferien- und Kanu-Camps. Im Unterlauf tauchen auch vermehrt kommerziell betriebene Biwakplätze auf. Das letzte Kanu-Camp befindet sich in Szkwierzyna kurz vor der Mündung in die Warthe. Und das ist kein Kilometer zu spät. Die Obra ist einer dieser wenigen Flüsse, von dem man jeden Kilometer mitnehmen sollte, wo das Kanu genug Wasser unterm Kiel hat.
Mehr Informationen zum Fluss – Gewässerexposé
Es hat sich etwas geändert? Hier geschilderte Informationen entsprechen nicht mehr der Wirklichkeit da draußen? Dann lasst das bitte alle wissen und kommentiert diesen Beitrag.
Der ideale Reiseführer für Wasserwanderer in Nordosteuropa inklusive allen wichtigen Infos zur Obra