Wilder, einsamer, schöner
Paddeln in Polen gehört seit Jahrzehnten zum festen Bestandteil der Reiseplanung von Langstreckenpaddlern. Es gibt genügend bekannte Beispiele, die den Ruf Polens unter den Wasserwanderschaften unanfechtbar gemacht haben. Polnische Flüsse sind wilder, einsamer und schöner als anderswo in Mitteleuropa, tuscheln die Insider gerne. Umso erstaunlicher ist es angesichts solcher Verheißungen, die jedes Jahr mehr und mehr Paddler anlocken, dass es auch in Polen noch Neues abseits ausgetrampelter Pfade zu entdecken gibt.Die Gwda ist der Inbegriff eines polnischen Paddelflusses – schwer aussprechbarer Name, solider Verlauf, verlässliche Bedingungen, die obligatorische Handvoll Wasserkraftwerke, angelnde Frauen und badende Kinder.
Perfekte Paddel-Idylle
Aber trotzdem, irgendetwas ist anders. Es fällt erst auf, wenn man mehr als die Hälfte auf diesem Fluss zurückgelegt hat und bereits deutlich den letzten Abstieg ins Urstromtal spürt. Es sind diese Attribute einer perfekten Paddel-Idylle, die zwar zweifellos auch andere polnische Kleinflüsse zu bieten haben, die im Falle der Gwda jedoch durchgängig von der Quelle bis zur Mündung das Paddelerlebnis prägen. Andere Flüsse können eine derartige Idylle lediglich über einige Etappen aufrechterhalten, und verbreiten ansonsten streckenweise auch schon mal das Flair eines Grabens oder städtischen Abwasserkanals. Die Drawa beispielsweise, eine der beliebtesten Kanurouten Polens, kaum fünfzig Kilometer weiter westlich verlaufend mit ähnlicher geomorphologischer Beschaffenheit, besitzt auch diese Graben-Etappen, während die Gwda von der Quelle bis zur Mündung einen naturbelassenen Eindruck macht.
Insel im Gwda-Dschungel
Der wohl drastischste Gegensatz lässt sich in Zahlen ausdrücken: 145 Flusskilometer und nur eine Stadt mit nicht einmal 5 Kilometern Uferlinie. Diese Stadt heißt Pila, liegt am Unterlauf der Gwda, ist ungewohnt aufregend und so etwas wie eine Insel der Zivilisation im polnischen Gwda-Dschungel. Die anderen 140 Kilometer sind fest in der Hand von Wald- und Wiesenbewohnern. Gäbe es in Polen nicht diese passionierten Angler, wäre die Chance höher, an der Gwda auf Feen und Kobolde anstatt auf Menschen zu treffen.
Alle zwei Tage ein Dorf
Alle ein bis zwei Tage trifft man mal auf ein kleines Dorf in Ufernähe, wo freilaufende Hunde das Dorfleben prägen. In diese Gegenden führen nur ein paar Sandwege. Daraus ergeben sich Erlebnisse, die heutzutage kaum noch möglich erscheinen im zivilisationsgebeutelten Mitteleuropa. Man meint aus der Zeit gefallen zu sein, wenn man am Oberlauf der Gwda bei Windstille auf einen der Seen hinaustreibt, der scheinbar alle Geräusche der Zivilisation verschluckt hat.
Seenswürdigkeiten
Apropos Seen: Die Pommersche Seenplatte zwischen Mecklenburg im Westen und Masuren im Osten ist für ihre Seen bekannt. Einige dieser Perlen gibt’s auch entlang der Gwda, die auf dem Pommerschen Landrücken entspringt. Diesem Quellgebiet mit mäßigem Abstieg und den Seen als Wasserspeicher für einen kontinuierlichen Abfluss ist es zu verdanken, dass die Gwda ganzjährig ausreichend Wasser führt und ein Tourenstart bereits wenige Kilometer hinter der Quelle möglich ist. Am Abfluss des ersten Sees, dem Studnica-See, ist das Flussbett bereits breit genug, dass sogar die für ihre Dickschiffe bekannten Kanadier unter den Kanuten mitpaddeln können. Dazu schiebt die Strömung auf ganzer Strecke mit angenehmer Geschwindigkeit vorwärts und bringt gelegentlich sogar eine kurze Passage mit leichtem Wildwasser zustande.
Kuschlig wild
Damit ist es andererseits aber auch bereits angedeutet: ein Wildwasser-Eldorado ist die Gwda nicht. Mehr als kuschlig-leichtes Wildwasser wäre in diesen Breitengraden aber sowieso nicht zu finden. Dafür ist es aber der vermutlich einzige Makel für jene, die sich ein bisschen Wasserrauschen und Spritzwasser für die Fahrt wünschen. Action im Fluss gibt es nämlich trotzdem. Dafür hat die Natur aufwändige Baumhindernisse angelegt, die zwar mitunter knifflig, aber nie so richtig fies sind. Das Fazit: Nur wenige Stromschnellen, aber dafür genügend Holz gegen die Langeweile.
Irgendwie anders
Hinter Pila hat das Rauschen ein Ende. Die Gwda ist endgültig im Tiefland angekommen und gräbt sich mit extremen Mäandern durch die Landschaft. An jeder Biegung klafft ein frischer Böschungsabbruch. Hier befindet sich der Fluss ständig im Wandel und ist ein Lehrbeispiel für den natürlichen Flussbildungsprozess. Dieser Slalom aus aneinandergereihten 180-Grad-Kurven setzt sich bis zur Mündung fort. Im Rennkajak könnte einem durchaus schwindlig werden. An der Gwda ist eben irgendetwas anders. Ein G, ein W, ein D, und dazu ein Vokal, das klingt irgendwie wilder, einsamer und schöner.
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